OGP Fachtagung 2022:

«Der Einzelne und seine Einsamkeit, die keine ist» –
Über Selbstsuche, Selbstoptimierung, Selbstbetrug und Selbstfindung.

Donnerstag, 23.06.2022, Klinik «Psychiatrie St. Gallen Nord»

Liebe Tagungsteilnehmer

«Der Einzelne und seine Einsamkeit, die keine ist» – Über Selbstsuche, Selbstoptimierung, Selbstbetrug und Selbstfindung.

Von modernen, gemeinschaftsstiftenden Ansätzen dank Søren A. Kierkegaard

Nach 1848 und 1850 kam es im Jahr 1854 zu einer dritten Cholera-Epidemie in der Hauptstadt Kopenhagen, in welcher in vier Monaten der Epidemie von den 130’000 Einwohnern der Stadt 7’219 angesteckt wurden, von denen 1’737 starben. Nach einer längeren Pause schrieb der stadtbekannte Søren A. Kierkegaard (1813-1855) in sein Notizbuch: «Die Bedeutung der Cholera liegt in der Richtung, die Menschen darin einzuüben, dass sie Einzelne sind, was weder Krieg noch andere Nöte tun, die sie eher zusammenscharen; aber Pest zersplittert in Einzelne, lehrt sie – leiblich –, dass sie Einzelne sind.» (SK GW 1, Tagebücher Band V, S. 260) 

So wollen wir in unserer Zeit entdecken, was es tiefgründig heisst, Einzelne zu sein und was «Einsamkeitsfähigkeit» (Alexander Grau) wirklich ist. Wir werden dabei sehen, dass es bei „Einsamkeit» weniger um sozialen Abstand, aber mehr um eine innere Gemeinschaft geht, um das Einssein mit sich (ansonsten es auch keine gute Gemeinschaft mit Anderen geben kann). Modernes Verständnis kann etwa im Artikel «Einsamkeit: der unerkannte Killer» von Anne-Françoise Allaz in der Schweizerischen Ärztezeitung (SÄZ 2021;102(3):108) gefunden werden. Das «Gefühl der Einsamkeit ist laut BFS ‹der subjektive Ausdruck eines Mangels an sozialen Ressourcen oder eines Bedürfnisses nach zusätzlichen oder anderweitigen sozialen Kontakten.› (BFS 2019)» Sie schreibt, wir stünden «an vorderster Front» und dürften «aus medizinischen und humanistischen Gründen dieser unbequemen Thematik nicht ausweichen.»

Es gelte, Menschen «in Kontakt mit Netzwerken, Vereinen oder Ressourcen (zu) bringen, auf die sie in Notlagen zurückgreifen können.» So martialisch der Titel klang, so rührend ihr Appel. Aber ist bei diesen Äusserlichkeiten damit auch das Innere angesprochen? Erhellendes trug Helmut Bachmaier, Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Konstanz, zur Herkunft des Wortes «Einsamkeit» bei: «Der Begriff ‹Einsamkeit› entstammt der ‹unio mystica›, der mystischen Gemeinschaft des Menschen mit Gott, heisst folglich ‹gemeinsam einsam zu sein›», «Einsamkeit meint ursprünglich Einssein». («SHf», «Hüt im Geschpröch» vom 16.02.2022; www.shf.ch)

Dies mag überraschen, besagt es doch, dass Einsamsein ein Gemeinsamsein ist! Aber eben gerade nicht allein bezogen auf Äusseres, sondern eben entscheidend auf Inneres: das Einträchtigsein eben auch mit sich selber. Dies hat vor 178 Jahren Søren A. Kierkegaard auf literarisch brillante Art und Weise in einer «Rede» niedergeschrieben, die an Aktualität nichts zu wünschen übriglässt: Im Menschen steht das «erste Selbst» mit dem «tieferen Selbst» im «Streit», in Zwietracht also, woraus jedoch eine Eintracht, ein «einträchtiges Miteinandergehen» werden könne (GW1, Bd. 8, S. 1-34).

Ist es «das Buch der Stunde für alle Untröstlichen» wie es über den Briefroman von Thea Dorn «Trost. Briefe an Max» (Penguin, München 2021) in Zeiten der Corona-Pandemie heisst? Kann ich «Die richtige Flughöhe» (Buchtitel unseres Fachkollegen Bertrand Piccard (Piper, München 2015, 20217)) bestimmen? Wie werde ich «Pilot meines Lebens» (Buch von Anna Maier (Giger, Altendorf 20212))?

Nahezu revolutionär ist hingegen, was S. Kierkegaard 1844 im Bild vom «tieferen Selbst» als dem «erfahrenen Lotsen» zeitlos gültig und über 60 Jahre vor S. Freud niederschrieb. Wie dies vertiefter zu verstehen und zu leben ist, wie gemäss S. Kierkegaard dank indirekter Mitteilung aus Selbst(er)kenntnis Trost erwachsen kann, dies ist – in Zeiten der «Das Selbst in der Krise – Krise des Selbst» (Daniel Hell (2022)) – unser Anliegen und Thema der diesjährigen Tagung (bereichert durch einen Büchertisch und Aufzeichnung durch «www.auditorium-netzwerk.de»).

Angesichts der modernen Ratlosigkeit und Einseitigkeit über das, was im Begriff «Einsamkeit» zu verstehen sei, ist es wohl berechtigt, von einer Tagung mit ausgeprägter «Transdisziplinarität» zu sprechen, da unsere Referenten aus verschiedenen Fach- und Forschungsbereichen kommen und mit Ihren Vorträgen uns ein reichhaltiges Programm und einen lebendigen Austausch bieten werden – für «Einzelne» und ihre «Einsamkeit, die keine ist».

 

OGP-Präsident
Christian Präckel-Stein

Das Programm der OGP-Fachtagung vom 23. Juni 2022

8.45-9.10

Generalversammlung der OGP

9.00-9.30

Ankunft der Tagungsteilnehmer, Registrierung, Café

9.30-9.45

Zur Einführung: «S. Kierkegaard» (ein Portrait von HJ Zander, Erstausstrahlung 2013 in WDR «ZeitZeichen»)

9.45-10.15

(jeweils im Anschluss der Vorträge 15 Minuten Diskussion mit Referent)
A. Hunziker «Einsamkeitsfähigkeit» (Odo Marquard) – Theologische und philosophische Überlegungen
in Anschluss Kierkegaards Verständnis des menschlichen Selbst

10.30-11.00

Markus Enders

«Das Leben Jesu Christi als die Wahrheit.» – Kierkegaards christliches und existenz-philosophisches Verständnis der Wahrheit 

11.15-11.45

D. Sölch

«Existenzphilosophie als Lebenskunst.» – Kierkegaard und seine Bedeutung für die existenzielle Psychotherapie

12.00-12.30

R. Kunz

«Zur Unterscheidung zwischen ‹allein-Sein› und ‹einsam-Sein›» – seelsorgliche Perspektiven

12.45-13.45

Mittag mit Essen und Pause

13.45-14.10

H. Bachmaier

«Einsamkeit mit Blick auf Michel de Montaigne» 

14.10-15.00

E. Drewermann

«‹Wenn der Mensch daran ist in sein eignes Nichts zu sinken› und das ‹tiefere Selbst› ihn ‹tauchergleich› rettet» –
Über den Zusammenhang von Trost und Selbstkenntnis in S. Kierkegaards erster von vier Erbaulichen Reden von 1844

15.10-15.40

J. Boomgarden

«Sei Du selbst!» – Modernes Menschsein zwischen Verwirklichung und  Verzweiflung

15.50-16.15

Café und Kuchen

16.15-16.45

P. Hoff

«Die Person im Zentrum – Was Kant und Fichte der Psychiatrie und Psychotherapie des 21. Jahrhunderts zu sagen haben»

17.00-17.30

O. Victor

«Denn es fehlt unserer Zeit völlig, daß einer sagt: ich.» – Kierkegaards Wende hin zum Einzelnen

17.45

Plenumsdiskussion

18.00

Ende der Veranstaltung